Eine Weihnachtsgeschichte in sechs Teilen – Teil 6 von 6
„Zähne putzen, Salve Gente!“
Wenn eine Geschichte fertig erzählt ist. Ein Buch gelesen. Der letzte Ton gespielt und der Abspann im Film beginnt, ist oft eine Leere. Die Kunst des Träumens hinter sich zu lassen. Sich sammeln und wieder ins Jetzt zurückkommen. Ein Griff in die Keksdose. Eine frische Tasse wärmenden Kräutertee. Oder der Appell „Hallo Leute, Zähne putzen“, was Opa Tore dann gerne für sich unter der Rubrik Opa-Tores-Lebensweisheiten teilen, verbucht. Opa Tore ist ein Künstler darin, eine verträumte Zeit zu beenden und die Romantik auszubremsen. Was Oma Geli immer ein wenig an ihm bedauerte. Der Ruf „F a h r k a r t e n k o n t r o l l e“, beendet in der Eisenbahn schlagartig das Landschaften-vorbeifliegen-sehen und das gedankenlos-aus-der-Scheibe-schauen.
„Zähne putzen, Salve Gente!“
„Eigentlich der Anfang von etwas“, fügt Opa Tore der Geschichte noch hinzu. Er schildert in kurzen Worten, wie die ersten Gastarbeiter nach Deutschland kamen. Anfänglich vor 65 Jahren aus Italien, dann vor 50 Jahren aus der Türkei. „Die Gastarbeiter wurden angeworben, weil in es Deutschland einen Arbeitskräftemangel gab“. Viele fanden hier für sich und ihre Familien eine neue Heimat.
Opa Tore erzählt, wie er sich auf den Weg in ein unbekanntes Land machte, um Arbeit zu finden. Wie er mit der Eisenbahn zur Arbeit fuhr. Abends wieder heim. Wie er sich Bahnhofsnamen auswendig lernte, um an der richtigen Station auszusteigen. Damals konnte er kaum deutsch sprechen und kaum lesen. Er erzählt von seiner ersten Fahrt unterwegs zum Einstellungsgespräch. Von seiner Nervosität. Als ihn jemand nach seiner Fahrkarte fragte. Es war Walter Mörskemper. Am nächsten Tag wieder. Und am Übernächsten. Wochenlang. Seine Fahrkarte musste er irgendwann nicht mehr zeigen. Zeitkarten mussten nicht entwertet werden. Und der Schaffner kannte ihn ja. Jemanden kennen. So ein Wortspiel von bedeutender und unbedeutender Größe. Wenn Walter mit der Kontrolle durch war, setzte er sich – mal kurz – mal etwas länger zu Tore. Tore schrieb Walters Worte, neue Begriffe in sein kleines Notizbüchlein. Immer wieder war es ihm eine große Hilfe, Menschen und die Sprache verstehen zu lernen.
„Man muss im Leben nicht immer auf der Suche nach dem wieso sein“, – auch eine der Lebensweisheiten von Opa Tore. Walter und Tore wurden Freunde. Walter steckte Tore mit seiner Eisenbahn-Leidenschaft an, bis Opa Tore selber ein Eisenbahner wurde.
„Und Josef?“ fragt Lilli.
Opa Tore erzählt die Begegnung mit Josef, dessen richtiger Name ja Maurice Ould Bedde Ould Cheikh Sidiya war. „Schön, dass Sie hier sind. Wohin des Weges“. Maurice streckte ihm seine Fahrkarte entgegen, meinte er zumindest. Es war sein mauretanischer Reisepass. Dunkelblau mit Schriftzeichen in zwei Sprachen. Aufgedruckt in goldener Farbe. Maurice hatte seinen Pass gedankenlos mit der Fahrkarte verwechselte. „Maurice Ould Bedde Ould Cheikh Sidiya“, murmelte Opa Tore. „Das ist ja schön, aber zeigen Sie mir trotzdem lieber ihre Fahrkarte“. „Oh Entschuldigung“ und reichte ihm diese nach. Opa Tore liebevoll neugierig, fragte nach mehr und bekam Antworten. Wie so oft. Maurice war auf dem Weg zu einem Bewerbungsgespräch und aufgeregt. Auf dem Heimweg begegneten sie sich wieder. Maurice hatte die Zusage für die Arbeitsstelle in der Tasche. Er wurde Volontär bei einer kleinen regionalen Zeitung in der hohenlohischen Provinz. Er nannte sich Josef. Einfach nur Josef. Ohne Familienname, der ja auch viel zu lang gewesen wäre. Benannt nach seinem Vater, der der einzigste Josef in ganz Mauretanien war. In seinen Artikeln stand dann immer „geschrieben von Josef“.
„Wie, der einzigste Josef?“ bohrte Finn weiter. Ungeduldig wie Kinder eben Fragen stellen, wenn in Geschichten Ungereimtheiten vorkommen.
„Ja, der einzigste Josef in ganz Mauretanien. So wie wenn du der einzigste Finn in ganz Deutschland wärst. Man konnte einen Brief adressieren mit Josef, Mauretanien. Und dieser Brief ist angekommen“, erklärt Opa Tore.
Ungläubig schütteln sowohl Lilli als auch Finn ihre Köpfe. Und freuen sich innerlich, dass sie Opa Tore bei einer seiner bunt ausgeschmückten Geschichten und Übertreibungen ertappt haben. Lassen es aber dabei, ohne weiter nachzubohren. Wissend, dass Opa Tore schnell die Lust am Erklären verlieren würde. Er verstand das wieso WIESO nicht. Manches wäre halt einfach so. Ohne Wenn und Aber. Opa Tore konnte sich schnell mit so einem leicht beleidigten Gesichtsausdruck abwenden, so tun als ob es ihn nichts angehe um damit eine Sache für beendet zu erklären. Oma Geli musste dann übernehmen, erklären und damit Opa Tore retten. Opa Tore „habe dann fertig“, wie Oma Geli dieses Situation mit einem Lachen beschreibt. Deshalb waren Finn und Lilli zufrieden, auch ohne alles bis ins letzte Detail zu wissen.
„Eine schöne Geschichte“, sagt Lilli. „Eine Geschichte eben“, meint Finn und greift ein weiteres Mal in die blecherne Keksdose.
Plötzlich hören sie das leise Knarren der Gartentüre am kleinen Häuschen in der Eisenbahner-Siedlung. Oma Gelis und Opa Tores Zuhause. Schritte auf den Steinplatten, die den Weg zur Eingangstüre ebnen, zwischen Blumenbeet und Garageneinfahrt. Ein Birnbaum zur Rechten. Fünf Treppenstufen bis zur Haustür, geschützt durch ein kleines Vordach aus Glas. Ein Zeigefinger sucht den Weg zur Haustürklingel. Rechteckig mit einem Runden Knopf. Weiss, etwas vergilbt. Nichts Besonderes. Das Namensschild unter einem durchsichtigen Plastikstreifen geschützt. Auf einem weißen Papier steht in schwarzer Schreibmaschinen-Schrift:
Angelika & Salvatore Palermo.
Schön, dass Sie hier sind.
Dann klingelt es an der Haustüre. Lilli, Finn, Oma Geli und Opa Tore schauen sich kurz an. Und etwas Neues beginnt.
Randnotiz
Weihnachten 2020 war geprägt von der Corona-Virus-Pandemie. Viele Weihnachtsgottesdienst wurden in anderer Form gefeiert oder aus Solidarität und/oder aus Verantwortung für das gesellschaftliche Miteinander abgesagt. Aus dem Projekt „Extrablatt für Weihnachten“ entstand die Idee für diese Geschichte. Die es sonst wohl nie gegeben hätte.
Persönliches
Der Autor erzählte vor dreißig oder mehr Jahren in einer Garage seinen Freunden eine Geschichte. Die Garagentür weit geöffnet. Ein lauer Sommerabend. Getränke standen auf dem Tisch, dieser nackt ohne Tischtuch-Schickschnack. Die Sitzflächen harte Bierbänke mit grüner Metallunterkonstruktion. Anlehnen war nicht. Thees Uhlmann beschreibt in einem Buch* „wie wichtig es wäre, sich ab und zu beim Aus- und Zusammenklappen die Finger darin zu verklemmen. Das mache nüchtern und demütig. Beides wichtige Gefühle“. Welch schöne Worte.
Achim erzählte von Otto aus Ghana. Der einzigste Otto seines Landes.
Bis zum heutigen Tage werden in diesem Freundeskreis blumige Geschichten mit der abschließen Redewendung „ein Otto“ abgestempelt. Hinterfragt wird nicht. Kein warum WARUM. Geschichten bleiben so in der Weite des Raumes und des eigenen Vorstellungsvermögens.
Um es mit Tore zu sagen: „Zähne putzen, Salve Gente!“
(*Zitat aus Thees Ullmann: Die Toten Hosen, KiWi-Musikbibliothek)