Eine Weihnachtsgeschichte in sechs Teilen – Teil 5 von 6
„Und alle, die es hörten, staunten über das, was ihnen von den Hirten erzählt wurde. Maria aber bewahrte alle diese Worte und erwog sie in ihrem Herzen. Die Hirten kehrten zurück, rühmten Gott und priesen ihn für alles, was sie gehört und gesehen hatten, so wie es ihnen gesagt worden war“.
Mucksmäuschenstill verfolgten Lilli, Finn und Opa Tore Wort für Wort. Es war ruhig im Wohnzimmer als Oma Geli die Bibel zu Seite legte. Oma Geli hatte auf Wunsch von Lilli nochmals mit dem Lesen der Weihnachtsgeschichte begonnen. Um die Stille und die dicke Träne zu überwinden.
„Ja, ich wolle nach Bethlehem. Sagte das zumindest“, sagte Oma Geli die Geschichte mit fester Stimme weitererzählend. „Eigentlich wusste ich nicht was ich wollte. Nur unterwegs sein. An einem Weihnachtsabend der mir total egal war. X-beliebig. Ein Tag wie andere Tage auch. Nur menschenleer. Leerer. Mir war nach Abenteuer. Offen und hoffend auf Fröhlichkeit. Suchend was diese SO HEILIGE NACHT mir bringen würde“.
„Hä?“, fragte Lilli. „ Du warst Maria, Oma Geli“?
„Eine Weihnachtsgeschichte“, sagte Oma Geli zu Lilli gewandt, „braucht keine Maria um eine solche zu sein“ und erzählte weiter. „Schon von weitem hörte ich eine männliche Stimme fröhlich pfeifend durch die Gänge wandelnd. Immer lauter werdend. Fast schon tanzend. In schicker Schaffner-Uniform. Ich kramte die Fahrkarte aus meiner Tasche. Aufrecht stand er vor mir und sagte „Schön, dass Sie hier sind“, in sagen wir mal deutsch mit Akzent. Und „Wohin des Weges?“
Ich wollte den Mann mit seinem Lächeln nicht bloßstellen. Wenn aber fröhlich auf Fröhlichkeit trifft, dann geschehen besondere Dinge.
Ich sagte „Nach Bethlehem“. Dachte mir, zu Weihnachten darf man aus dem Normalen ausbrechen und den Gegenüber mit etwas Überraschendem konfrontieren. Was anderes fiel mir auf die Schnelle nicht ein. Er murmelte leise „Bethlehem“?
Ich sah, wie der Schaffner schluckte. Hatte er sich doch Wort- und Satzbausteine für seine kleine Welt des Schaffner-Seins zusammengefügt. Und darin kam Bethlehem beim besten Willen nicht vor. Jedenfalls nicht zwischen Nürnberg und Crailsheim.“
Dabei kannte er sie alle. Angeeignet und auswendig gelernt. Alle Orte. Alle Zwischenhalte. Ja selbst deren anliegende Ortschaften, wie zum Beispiel Oberdallersbach. Unbekannter Weise. Umsteigen in Dombühl. In den Pausen in muffigen Bahnhofsräumen bei löslichem Kaffee eingetragen in das kleine Notizbuch. Nur Bethlehem?
Finn und Lilli konnten das Arbeiten der Gehirnknochen ahnen und sich die Geräusche vorstellen.
„Den Blick werde ich mein Leben lang nicht vergessen. So eine Mischung aus Weiß-Nicht, Treu-Doof, Verzweiflung, Stoppstelle. Oder in Opa Tores später angeeigneter Eisenbahner-Sprache Endgleis und Prellbock. Und trotzdem so eine gefühlte Allwissenheit ausstrahlend. Null Problemo. Alles-unter-Kontrolle-habend“, lachte Oma Geli.
Opa Tore fand’s nicht ganz so lustig, lächelte aber gnädig und schwieg genießerisch in seinem Ohrenbackensessel vor sich. Dankbar, dass Oma Geli die Erzählung übernahm, ohne dass er sie dazu hatte bitten müssen. Sie hat so ein feinfühliges Gespür für die Situation, was er sehr an ihr schätzte. Von Anfang an.
Während der Regio 90 stetig in Richtung Crailsheim fuhr, blieb die Welt für einen kurzen Moment stehen. Um sich dann weiterzudrehen. Und zwar genau in dem Moment als Walter Mörskemper den Gang entlang kam. Opa Tore war an diesem Abend erstmals der Schnellere. Walter Mörskemper also etwas später in der Zugmitte.
„So, sie wollen also nach Bethlehem?“ Walter Mörskemper quittierte die Frage mit einem Lächeln „Wer will das nicht in der Heiligen Nacht“. „Die Hirten, die Heiligen Drei Könige… wären Sie mit der Eisenbahn gefahren, wären sie pünktlich in Bethlehem angekommen“. „Wäre, Wäre,“ entgegnete Oma Geli lachend, „Sie wären vermutlich niemals oder erst im nächsten Jahr angekommen“. „Was sie dann trotzdem sind. Verspätet. Auch ohne die Eisenbahn“, fügte Walter hinzu. Nicht genau wissend, ob das der Reihenfolge an der Krippe auch entsprach.
Hilfs-Schaffner Tore verstand kein Wort. Bahnhof. Heilige Drei Könige. Und blickte mit seinen funkelnden Augen drein (die Reisende beobachtete genau!), wie ein Elefant im Porzellan-Laden. Konnte nicht mal, wie Maria in der Weihnachtsgeschichte, diese Worte in seinem Herzen bewahren. Zu laut. Zu schnell. Zu fremd. War immer wieder kurz davor, sich mit einem Bleistift Notizen in sein Büchlein zu schreiben, um das Gehörte ein andermal verwenden zu können. Eine Taktik, die bisher aufging und ihm Sicherheit im Umgang mit Menschen gab. Hier nicht.
„Setzt dich mal hin Tore“, sagte Walter Mörskemper. Opa Tore und Walter setzten sich zu der Reisenden, also zu Oma Geli. Und erklärten Opa Tore, was bisher geschah. Besser sie versuchten es zu erklären.
Opa Tore hörte zu mit so einem knitzen Lächeln des „Alles-In-Ordnung“ und „Ah“ und „Oh“ und „Capito“. Mamma und Mia. Den beiden anderen glauben machend, dass er alles begriffen habe. Lachend mit viel Gestik. Ohne wirklich etwas kapiert zu haben.
Während Oma Geli im Erzählen zu Höchstform auflief, saß Opa Tore schweigend und genießend in seinem Ohrenbackensessel. Erinnerte sich an jenen Abend, der sein Leben veränderte. Diesen für ihn zum Ewigen Heiligen Abend machte.
Walter Mörskemper stieg in Crailsheim aus. Seinem ursprünglichen Plan entsprechend. Ging heim zu seiner Familie und später in den Gottesdienst.
Die Reisende und der Hilfs-Schaffner fuhren die Strecke Crailsheim Nürnberg und Nürnberg Crailsheim noch mehrmals. Erzählten sich die Geschichten ihres Lebens. Mit Händen, Bewegungen und einfachen Worten umfuhren sie fehlende Sprachkenntnisse geschickt. Erst nach dem letzten Zug trennten sich ihre Wege. Für einen kurzen Zeitraum zwischen den Jahren.
Der letzte Teil der Geschichte erscheint am 28.12.