Eine Weihnachtsgeschichte in sechs Teilen – Teil 4 von 6
Für Opa Tore wird es ein besonderer Tag werden. Seit langer Zeit wieder auf den geliebten Gleisen unterwegs zu sein. Schon früh am Morgen bemerkte Oma Geli seine fröhliche Grundstimmung. Nein, Opa Tore war kein Morgenmuffel. Aber so fröhlich „La-Paloma-pfeifend“ eben auch nicht.
Eine Redewendung die Opa Tore immer wieder, auf das Thema angesprochen, betonte. Hintergrund war eine in die Jahre gekommene Rasierwasser-Werbung.
Fröhlichkeit war ein Markenzeichen von Josef. Mit einem Lächeln war er in den Gängen des Region 90 unterwegs. Anfänglich Opa Tore zuschauend.
Es gab noch keine elektronischen Apps. Tickets hießen noch Fahrkarten. Hergestellt aus einem etwas festeren Papier in der Größe einer Tafel Schokolade. Mit einer Zange wurde eine Nummer und das Datum aufgedruckt und damit die Fahrkarte entwertet.
In Regionalzügen sind weniger Reisende unterwegs. Mehr Pendler die zur Arbeit fahren. Und Ausflügler aus der Region, die in diesen Tagen den Christkindlesmarkt in Nürnberg besuchten.
Ein Schaffner war immer einem bestimmten Zug zugeteilt. Und so waren Josef und Opa Tore mehrfach am Tag auf der Strecke Crailsheim – Nürnberg unterwegs.
Mit „Schön, dass Sie hier sind“, eröffnete Josef jedes Gespräch mit den Fahrgästen. Unkonventionell. Josef erntete ein Lächeln bei den Menschen. Und nur wenige schauten mürrisch oder in Gedanken versunken in ihre Tageszeitung oder aus dem Fenster. „Schön, naja … ich könnte mir einen schöneren Ort als hier im Zug vorstellen“, sagte ein Gast mit einem Lächeln. Meist ist der Kontakt von kurzer Dauer.
Bei aufkommenden Fragen war Opa Tore da und unterstützte Josef. Dieser war wissbegierig und lernte schnell die einfachen Dinge des Schaffner-Seins. Verkaufte am zweiten Tag bereits die ersten Fahrkarten. Das war damals noch gegen einen kleinen Aufpreis möglich. Kontrollierte selbständig – mit Opa Tore im Hintergrund. Am dritten Tag wurde er von den ersten Pendlern mit „Herr Josef“ begrüßt. Am vierten Tag begann Opa Tore im ersten Wagen. Josef im Letzten. Sie trafen sich in der Mitte. Es entwickelte sich ein kleiner Wettbewerb, wer schneller über der Zugmitte hinaus wäre.
Sie tranken löslichen Kaffee in den muffigen Bahnhofsräumen. Erzählten sich ihre Geschichten. Aus morgens wurde abends. Aus Mittwoch Donnerstag. Freitag und Samstag und Montag.
Josef’s Heimatland war Mauretanien. Da er in seinem Heimatland keine Perspektive für sich sah, machte er sich auf den Weg in ein fremdes Land, um Arbeit zu finden. Eine harte Zeit. Fern der Heimat. Einsamkeit. Einzig seine ihm geschenkte Fröhlichkeit bewahrte er sich. Als Schutz, sein Leben bewältigen zu können.
„In drei Tagen ist Weihnachten“ sagte Opa Tore und fragte weiter „Was wirst du machen, Josef?“.
„Ich habe es nicht so mit Weihnachten“, antwortete Josef. „Im letzten Jahr habe er gearbeitet. Im Jahr zuvor – weiß nicht mehr“.
Für Opa Tore schwer begreiflich, war doch Weihnachten für ihn immer ein besonderes Fest. Beginnend mit der Weihnachtsgeschichte, den Weihnachtsliedern, wie auch das Feiern mit der Familie. Bis auf ein einziges Mal, das sein Leben veränderte.
„Fahren wir am Donnerstag, dem Heiligen Abend noch eine Tour?“ fragte Josef bittend Opa Tore, „Das wäre für mich Weihnachten“. Wohl wissend, dass die Probewoche dann um einen Tag verlängert würde. Wissend auch, dass er von Opa Tore noch mehr abverlangen würde.
Opa Tore wollte am Heiligen Abend zuhause sein. Das wusste Josef. Einer Tradition folgend, geht die Familie dann gemeinsam zur Christvesper, dem Gottesdienst am Heiligen Abend.
„Wir fahren noch den Sechzehn-Achtunddreißig von Nürnberg nach Crailsheim. Dann ist Feier- ähhh Heiliger Abend“, sagte Opa Tore und wusste, dass er damit sein erstes Weihnachtsgeschenk verteilt hatte. Er habe es bereits mit Walter Mörskemper abgeklärt, fügte Opa Tore ordnungshalber noch hinzu.
Mit dem „Sechzehn-Achtunddreißig“ meinte Opa Tore den Zug mit Abfahrt 16 Uhr 38 in Nürnberg Hauptbahnhof. Fahrzeit eine Stunde. Ankunft 17 Uhr 38. Dann schnell nach Hause. Umziehen und ohne Hetze und Eile mit Geli das Weihnachtsfest einläuten. Das war Opa Tores Plan für den Heiligen Abend.
16 Uhr 38. Die Scheinwerfer erhellten das Gewölbe des Nürnberger Bahnhofes. 24. Dezember. Heiliger Abend. „Viiiieeeel weniger Menschen tummelten sich auf den Bahnsteigen“, erzählte Opa Tore weiter.
Der Lokomotivführer kündigte mit einem Pfiff die Abfahrt des Zuges an. Josef hinten. Opa Tore vorne. Schnell arbeiteten sich die Beiden durch die spärlich gefüllten Zugwaggons. Wer ist jetzt schon noch unterwegs? An den Haltestellen stiegen kaum weitere Menschen zu. Und es schien eine letzte Fahrt ohne Besonderheiten zu werden.
Wagentyp Silberlinge. Ungefähr in der Zugmitte saß noch eine Person. Opa Tore und Josef kamen ziemlich gleichzeitig bei ihr an. Die Sitze in den Waggons sind quer zur Fahrrichtung ausgerichtet. Dunkelrotes Lederimitat. Gepäckablagen aus grün-gold schimmerndem Metall trennen die Sitzgruppen optisch voneinander.
Immer wieder streute Opa Tore kleine Details seiner Zugkenntnisse in Geschichten ein. Unwesentlich für den Verlauf der Geschichte. Wesentlich, um sein Wissen zu teilen.
Eine junge Frau unterwegs zu ungewöhnlicher Uhrzeit an einem alles andere als gewöhnlichen Tag. Nichtsdestotrotz sagte Josef „Schön, dass Sie hier sind“. Wie immer in seinem fröhlichen Wesen und fragte die Reisende „Wohin des Weges?“ „Nach Bethlehem!“, antwortete diese mit einem Lächeln und hielt Josef die Fahrkarte zur Kontrolle hin.
Opa Tora atmete tief, räusperte sich kurz und nahm einen kräftigen Schluck ungesüßten Kräutertee aus der Porzellantasse.
„Bethlehem?“ murmelte Walter Mörskemper leise. Kaum hörbar. Während Opa Tore in seiner Erzählung innehielt.
Eine merkwürdige Stille der offenen Fragen füllte das Wohnzimmer. Josef? Walter? Die Reisende? War dies Maria? Knisternd. Lilli und Finn schauten gleichzeitig zu ihrem Opa Tore. Der tief in seinen Ohrenbackensessel zurückgelehnt saß. Fast schon versunken in ihm. Während eine dicke Träne auf seiner rechten Wange ihren Weg suchte.
Fortsetzung folgt am 26.12.