EmK Erlöserkirche Marbach

Tore, Maria und Josef – Teil 3

Eine Weihnachtsgeschichte in sechs Teilen – Teil 3 von 6

Der Bahnhofsvorplatz in Crailsheim ist um diese Uhrzeit erstaunlich menschenleer. Die wenigen Menschen hetzen dick eingepackt in Richtung der Bahnsteige und zu den Bussen. Ein kühler Dezembermorgen. Die große runde beleuchtete Bahnhofsuhr ist Tempogeberin für die Menschen. Ein kleiner Blick und der Gang wird schneller oder langsamer, hektischer oder gemütlicher.

Tore blickte abwechselnd auf die Bahnhofsuhr und auf seine Armbanduhr an seinem linken Handgelenk. Ein Geschenk seines Vaters. Eine alte Gewohnheit.

Und sah immer wieder fasziniert, wie der Sekundenzeiger der großen Bahnhofsuhr zur vollen Minute kurz innehält.

„Dies bringt Ruhe in die letzte Minute und erleichtert die pünktliche Zugabfertigung“, sagte Opa Tore zu Finn und Lilli. „Der Sekundenzeiger läuft etwas zu schnell, so dass er zu jeder vollen Minute ca. 1,5 Sekunden stehenbleibt“.

Opa Tore freute sich sein Wissen teilen zu können. So ein typisches Opa-Wissen über kleine, feine, unnütze und trotzdem wichtige Dinge fürs Leben.
Wieder und wieder schaute Tore auf seine beiden Uhren. Fast ungeduldig.

07 Uhr 20. 07 Uhr 21. Zweiundzwanzig. Dreiundzwanzig.

Plötzlich war er da. Maurice Ould Bedde Ould Cheikh Sidiya. Wie vom Himmel gefallen. Tore hat ihn nicht kommen sehen, obwohl er meinte alles im Blick zu haben. Mit einem fröhlichen „Guten Morgen. Schön sie zu sehen, Herr…“.

„…Tore, wir Eisenbahner duzen uns. Nennen uns beim Vornamen“, erwiderte Opa Tore nicht ganz so euphorisch wie Herr Ould Bedde Ould Cheikh Sidiya. Aber liebevoll, mit so einem gutmütigen Opa-Lächeln.

„Was ich zum damaligen Zeitpunkt natürlich noch nicht war, nicht mal davon träumte“, schob Opa Tore seiner Geschichte hinterher. Ist er doch beinahe in seiner Erzählung in das Jetzt und Heute verrutscht.

„Josef“ sagte Maurice Ould Bedde Ould Cheikh Sidiya.

„Josef?“, fragte Opa Tore ganz erstaunt.

Die beiden standen sich immer noch in der Dezemberkälte von Crailsheims Bahnhof gegenüber. „Komm herein in die gute Stube, Jooosseefff“ – er betonte es, wie wenn Finns Mama „Fiiiiinnnnnnnnn“ ruft, um ihn schnellstmöglich nach Hause zu bekommen.

Tore und Josef betraten den kleinen Personalraum. In jedem Bahnhof gibt es den. Ausgestattet mit keinerlei Luxus. Nur auf das Notwendigste begrenzt, damit Eisenbahner in jedem Bahnhof der Welt eine kleine Heimat finden. Es muffelte etwas, nach trockener Wärme und Menschenschweiß. Das Öffnen der Fenster zum Lüften schien in Vergessenheit geraten zu sein.

„Kaffee?“

„Gerne“.

Opa Tore entnahm jeweils einen Löffel eines löslichen Kaffeepulvers aus der Verpackung, leerte dieses in eine Porzellantasse und goss heißes Wasser darüber.

„Danke. So ein warmer Kaffee tut gut“ sagte Maurice oder Josef, wie auch immer jetzt sein Name war. Und hielt mit beiden Händen die Tasse umschlungen, um sie zu wärmen. Das hat die Wichtigkeit, wie das Trinken selber. Wärme für innen und außen.

Opa Tore telefonierte kurz mit Walter Mörskemper und informierte ihn, dass der Neue da wäre. Es war still im Raum, einzig die einzelnen Anschläge der Schreibmaschine durchbrachen diese. Opa Tore tippte im Ein-Finger-System das Namensschild, das sich jeder Schaffner an der Uniform zu befestigen hat. Häufig der Grund dafür, dass sich unzufriedene Bahnreisende lauthals namentlich über Schaffner beschweren können.

Da Ould Bedde Ould Cheikh Sidiya deutlich zu lang war, tippte Opa Tore die einzelnen Buchstaben J O S E F für Josef auf das kleine Papierkärtchen, das dann in ein metallenes Namensschild eingeschoben wurde. Eine Sorge weniger. Selbst Oma Geli hatte er in seine Gedanken eingeweiht. Hatte sich doch Opa Tore tagelang überlegt, wie er Ould Bedde Ould Cheikh Sidiya hätte kürzen können damit der Name auf das Schildchen passte.

Es ist gut, dass sich manche Dinge von selbst erledigen, dachte Opa Tore dankbar über seine Gehirnanstrengungen nach.

Opa Tore erklärte Josef die heutigen Aufgaben. Josef hörte andächtig zu. Fragte dies und das und sogar jenes. Und Opa Tore hatte immer eine Antwort parat. Die beiden waren so geschäftig, dass Opa Tore sich keine Gedanken mehr darüber machte, wie es zu dem Namenswechsel Maurice zu Josef und umgekehrt kam.

Kurz vor viertel-nach-zehn standen Tore und Josef am Bahnsteig um auf den Regio 90 nach Nürnberg zu warten. Pünktlich fuhr die dunkelrote Diesellokomotive in den Bahnhof ein.

Fortsetzung folgt am 24.12.2020

Wer möchte, kann die Geschichte auch anhören bzw. sich vorlesen lassen unter podigee