EmK Erlöserkirche Marbach

Tore, Maria und Josef – Teil 2

Eine Weihnachtsgeschichte in sechs Teilen – Teil 2 von 6

Opa Tore schnäuzte sich die Nase. Es war kein einfaches Schnäuzen. Opa Tore zelebriert es. Sehr zum Ärger von Oma Geli. Es klingt wie wenn die Tuba im Posaunenchor neben dem üblichen Brum-Brum-Basston zu einem Solo ansetzt und im Gesang der Trompeten endet. In der Lautstärke, dass die Vasen aus Keramik auf der Fensterbank zu vibrieren beginnen.

„Josef“ stand plötzlich vor der Bürotür von Opa Tore.

Die Beine haben nicht mehr mitgemacht, deshalb war Opa Tore nach vielen Jahren als Schaffner in den Innendienst versetzt worden.

„Ich möchte Schaffner werden“, sagte er zu Opa Tore – mit einem Strahlen im Gesicht, das an ein Kind erinnert, das auf den Kuchen noch einen Löffel frisch geschlagene Sahne bekommt. Josef legte seinen Reisepass auf den Tisch. „Die Bewerbungsunterlagen.“

Opa Tore setzte seine Lesebrille auf. Während er den dunkelblauen Pass öffnete, saß Josef ihm gegenüber. Mit einem Strahlen im Gesicht. Einem Strahlen, das selbst auf dem Passbild erkennbar war. Einer Vorschriften entsprechend, soll das Passbild biometrisch sein. Da ist ein Strahlen nicht vorgesehen. Nicht so bei Josef.

„Maurice Ould Bedde Ould Cheikh Sidiya“ murmelte Opa Tore vor sind hin, den Familiennamen ablesend.

„Wie hieß der“, fragte Finn nach. „Maurice“ die superschlaue Lilli. „Ich meine mit dem Familiennamen“. Finn bemerkte wie Opa Tore große Mühe mit dem Aussprechen dieses zungenbrechenden Familiennamens hat.

Ähmmm, „Herr Ould Bedde Ould Cheikh Sidiya“ und Opa Tore dachte dabei schon an das Namensschild das jeden Schaffner schmückt und von unglaublicher Länge sein musste.

„Wieso wollen Sie Schaffner werden?“, ein Beruf der in den letzten Jahren aufgrund der Automaten und Apps etwas in Vergessenheit geraten ist. „Ich möchte Menschen helfen, ihren Weg, ihre Verbindung zu finden.“ Im ersten Moment dachte Opa Tore: was für ein Vogel. Wenn Menschen an ein Gespräch mit Schaffnern denken, fällt ihnen als Erstes „Ihre Fahrkarte bitte“ ein.

Opa Tore erzählte in blumiger Sprache von der Schaffner-Romantik und erklärte den Weg der Berufsausbildung. Die Beiden klärten dies und das und am Ende schlug Opa Tore dem Herrn Ould Bedde Ould Cheikh Sidiya ein einwöchiges Praktikum vor. Herr Ould Bedde Ould Cheikh Sidiya sagte ohne mit den Wimpern zu zucken zu. „Ich melde mich schnellstmöglich wegen des Termins bei Ihnen“.

Herr Ould Bedde Ould Cheikh Sidiya verabschiedete sich von Opa Tore mit einem noch fröhlicheren Lächeln. „Ich dachte schon, jetzt will er mich umarmen“. Eine Geste die in der damaligen Zeit völlig unmöglich gewesen wäre.

Opa Tore musste unbedingt zu Walter Mörskemper. Er wollte Maurice Ould Bedde Ould Cheikh Sidiya nämlich während dieses Praktikums begleiten. Und Walter Mörskemper, als Ausbildungsleiter, musste Opa Tores Plan zustimmen. Mal wieder raus in den Zug zu den Menschen, darauf hoffte Opa Tore.

„Opa Tore, die Geschichte ist völlig unlogisch“ sagte Finn, während Oma Geli eine frische Kanne honiggesüßten Kräutertee auf den Tisch stellte. „Josef, Maurice – was denn nun?

„Geduld, meine Lieben“. Streckte sich kurz, die Arme weit ausbreitend, in seinem Backensessel.

Es gibt für einen Erzähler nichts schöneres als solche Fragen. Die Ungeduld und die Neugierde steht den Zuhörenden ins Gesicht geschrieben. Eine Geschichte, die in den Bann zieht. Und es kommt nicht selten vor, dass sich Erzähler so in die Geschichte hineinsteigern, dass sie selbst Teil dieser werden. Opa Tore sah in seinen Gedanken Finn und Lilli schon im Zugabteil sitzend und Herr Ould Bedde Ould Cheikh Sidiya die Beiden „Ihre Fahrkarten bitte!“ fragen.

„Bist du dir sicher Tore?“, als Opa Tore Walter Mörskemper in seine Pläne einweihte. Opa Tore und Mörskemper kannten sich seit gefühlt hundert Jahren. Unter Kollegen spricht man selten von Freundschaft. Opa Tore und Walter waren Freunde. „Walter, ich weiß, es ist nicht der übliche Weg. Aber irgendwie habe ich da ein besonderes Gefühl“. „Wenn du meinst“ meinte Walter Mörskemper weiter, aber „deine und unsere Arbeit darf nicht darunter leiden“. Es waren gut gemeinte Worte. Mörskemper vertraute Opa Tore. Er trug schon den einen oder anderen Alleingang von Opa Tore mit.

Opa Tore nahm sein Diensttelefon in die Hand und wählte die Nummer von Maurice Ould Bedde Ould Cheikh Sidiya. „Herr Ould Bedde Ould Cheikh Sidiya, wir treffen uns am Mittwoch, 16. Dezember. 7 Uhr 30 am Personaleingang vom Bahnhof in Crailsheim. Wir fahren dann um 10:20 mit der RE90 nach Nürnberg“. Um der Ansage mehr Bedeutung hinzuzufügen, sagte Opa Tore „Bitte pünktlich sein!“.

Dass die Eisenbahn nach dem Volksmund eher unpünktlich ist, ärgerte Opa Tore schon immer. Es sind die äußeren Umstände, nicht wir Menschen die bei Zeitverzögerungen Ausschlag gebend sind.

Opa Tore hält kurz inne. Trinkt einen kräftigen Schluck Kräutertee und greift in die Dose mit dem Weihnachtsgebäck.

Etwas früher, bereits um viertel nach sieben stand Opa Tore vor dem Personaleingang. Ein kühler Morgen. So ein typischer Dezembertag. In seinem schicken Schaffner-Anzug, den Oma Geli so an ihm liebte. „Schicke Männer tragen Uniform“ so Oma Geli. „Es waren andere Zeiten als heute“. Opa Tore wartete auf Maurice Ould Bedde Ould Cheikh Sidiya.

Wird er da sein? Wie wird der Tag werden? Wird es ein Fiasko werden? Wird die Freundschaft zwischen Walter und Opa Tore diese Tage überleben?

Fortsetzung folgt am 19.12.2020

Wer möchte, kann die Geschichte auch anhören bzw. sich vorlesen lassen unter podigee