Eine Weihnachtsgeschichte in sechs Teilen – Teil 1 von 6
„Und Maria wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Futterkrippe. Denn sie hatten sonst keinen Platz in der Unterkunft gefunden“ äfft Finn seine Oma Geli nach. Omas Stimme kann Finn so gut nachmachen, dass selbst seine Mutter einmal hereingefallen ist. „Ist doch immer die gleiche Leier, Oma“. „Ja“, meint selbst Lilli. Und Lilli ist Oma-Fan. Lilli liebt es wenn Oma Geli Geschichten vorliest. Mit ihren fünf Jahren klar. Vermutlich sind alle Fünfjährigen Oma-Fans. Und natürlich auch Opa-Fans. Doch Opa Tore ist kein Vorleser. Er bringt es nicht übers Herz, immer dieselben Geschichten zigmal vorzulesen: eben das, was Finn bemängelt. Inkonsequent, weil Finn das Buch der Maulwürfe mehr als auswendig konnte und Opa trotzdem immer und immer wieder die Stelle, als der Maulwurf mit dem Specht Freundschaft schloss, vorlesen musste. Bis es Opa Tore irgendwann zu bunt wurde (dabei war es nicht einmal ein bunt-Specht). Opa Tore klagte über schlechtes Sehen und war raus aus der Vorlesenummer. Oma Geli ihrerseits liebt es. Win-Win-Situation wie man heute so gerne dazu sagt.
„Na gut“, sagt Oma Geli und schlägt das Lukas-Evangelium zu. Eigentlich schließt sie die Bibel. Aber es ist die Weihnachtsgeschichte aus Lukas 2. Naja – so Pfarrer-Gedöns halt.
„Und jetzt?“ fragt Lilli enttäuscht. „War’s das für heute?“ Es ist kurz ganz still im Raum. Selbst Opa Tore schaut aus seinem Sessel auf. Oma stellt die alte Familienbibel zurück in das Bücherregal.
„Die Weihnachtsgeschichte gehört zu Weihnachten. Man kann sie ruhig immer wieder, Jahr für Jahr lesen“ sagt Oma, gütig wie Omas eben sind, und fängt die knisternde Stille mit „es gibt noch Zimtsterne“ auf. „Oh fein“, sagt Lilli und auch Finn greift in die tiefe Steinschale gefüllt mit allerlei Gebäck. Eines besser als das andere.
„Ich hatte mal einen Kollegen, der hieß Josef“, sagt plötzlich Opa Tore aus seinem Backensessel heraus. Backensessel, auch Ohrenbackensessel genannt, haben höhere Rückenlehnen mit flügelartigen Backen am oberen Ende. Das entspannt Kopf, Schulter und Nacken beim Sitzen – und ist bestens geeignet für ein Nickerchen – zu jeder Tages- und Abendzeit. „Josef stammte ursprünglich aus Mauretanien. Irgendwo in Afrika. Josef war schwarz wie die Nacht“. „Opa Tore“ raunt Finn ihn an, „so was sagt man heute nicht mehr“. „Er war aber schwarz und das ist auch nicht böse gemeint“, rechtfertigt sich Opa Tore aus seinem Sessel heraus.
„Und jetzt rate mal, wie Josefs Ehefrau hieß?“ fragte Opa. Und bevor Finn, Lilli oder Oma Geli antworten konnten: „MARIA -, ja die hieß tatsächlich Maria“ und lacht dabei. „Maria, ja Maria“, Opa Tore wiederholt sich gerne so, als ob er nicht gehört wurde. Oder er betont es als Verstärker, was für ein Wortspiel ihm gelungen ist. „Wie Maria und Josef in der Weihnachtsgeschichte“, strahlte Lilli über das ganze Gesicht. „Ja Lilli“, sagt Finn und macht dabei seine Stimme um zwei Jahre jünger. Er will Lilli als kleine Schlaumeierin darstellen. Was Lilli natürlich auch ist. Etwas, was Finn hin und wieder ärgert und es deshalb auch kleine Reibereien gibt.
„Und das kam so“ geht Opa Tore dazwischen, bevor Lilli was erwidern kann. Kurz hält er inne, um sich mit einem Taschentuch aus Baumwolle die Nase zu schnäuzen.
Fortsetzung folgt am 15.12.2020